Rede von Oberbürgermeister Klaus Jensen
anläßlich der Gedenkfeier 2014 zur Reichspogromnacht vom 9. November 1938
an der Erinnerungsstele an der alten Synagoge am Zuckerberg
Sehr geehrte Frau Bakal,
verehrte, liebe Mitglieder der jüdischen Kultusgemeinde,
liebe Trierer Mitbürgerinnen und Mitbürger!
Die Stadt Trier gedenkt gemeinsam mit der jüdischen Kultusgemeinde seit vielen Jahren an dieser 1985 errichteten Stele der schrecklichen Ereignisse in der sogenannten Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938.
Wir tun dies selbstverständlich auch an diesem 9. November 2014, einem Tag, an dem wir mit großer emotionaler Anteilnahme und Freude den 25. Jahrestag des „Falls der Mauer“ feiern. Der 9. November mit der Ausrufung der ersten deutschen Republik 1919, dem Hitler-Ludendorff-Putsch 1923, der Pogromnacht 1938 und dem Mauerfall 1989 markiert ein herausragendes Datum in der deutschen Geschichte. Dieser „Schicksalstag der Deutschen“, der unterschiedliche historische Ereignisse in ihrer Interdependenz miteinander verknüpft, steht wie kein anderer Tag für die Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit der deutschen Geschichte im vergangenen Jahrhundert.
Bei aller berechtigten Freude über die unglaublichen Ereignisse heute vor 25 Jahren mit der Überwindung von Todesstreifen, Stacheldraht und Mauer zwischen Deutschland-Ost und Deutschland-West:
das Geschehen vom 9. November 1938 kann und darf damit nicht in Vergessenheit geraten. Der 9. November 1938 mit einem von den Nationalsozialisten heimtückisch in Szene gesetzten Pogrom an den jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, bleibt für alle Zeiten das Symbol eines Zivilisationsbruchs, der von diesem Tag an zu einem systematisch organisierten Völkermord an sechs Millionen Juden führte und auch andere Minderheiten vernichtete.
Die Pogromnacht vom 9. November ist zu einem Symbol der destruktiven Übergriffe antisemitischer Ausschreitungen geworden, zu einem Symbol der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Ausrottungspolitik. Wohl auch aus Rücksicht auf das Gedenken und die Folgen dieses schrecklichen Tages in der deutschen Geschichte wurden ursprüngliche Überlegungen, den Tag des Mauerfalls in einem wiedervereinigten Deutschland zum Nationalfeiertag zu erklären, nicht weiter verfolgt.
Hier an dieser Stelle, an der wir uns zusammen gefunden haben, stand die in der Nacht vom 9. auf den 10. November von den Nationalsozialisten geschändete Synagoge, die 1944 bei Bombenangriffen ganz zerstört wurde. Das 1859 erbaute jüdische Gotteshaus war das Zentrum eines blühenden jüdischen Gemeindelebens, eines friedlichen Miteinanders von Juden und Nichtjuden auch in dieser Stadt. Spätestens die brutalen Aktionen der NS-Horden heute vor 76 Jahren setzen diesem Zusammenleben ein Ende.
In ganz Deutschland, so auch in Trier, wurden jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürger gedemütigt, geschlagen, misshandelt. Vielfach wurde ihr Hab und Gut von SA-Schlägern zerstört. Allein in Trier wurden über 100 jüdische Menschen verhaftet und in das Gefängnis in die Windstraße gebracht. Auch in Trier wurde nach dem 9. November 1938 jüdisches Leben mehr und mehr – unter überwiegender Duldung oder Hinnahme durch die übrige Bevölkerung – von den Nationalsozialisten ausgelöscht. Gab es 1933 in Trier noch rund 800 Juden, so kehrten 1945 nach den Vertreibungen, Deportationen und den Vernichtungen in den Konzentrationslagern 14 Juden nach Trier zurück.
Einzeldarstellungen von Zeitzeugen vermögen das Grauen des Geschehens vor 76 Jahren oftmals bedrückender wiederzugeben, als abstrakte, schier unfassbare Zahlen der nationalsozialistischen Verbrechen. Mir bleibt die im November 2011 im Trierischen Volksfreund veröffentlichte Schilderung von Magda Schuler unvergessen, die am 10. November 1938 als damals 10jährige Schülerin der Volksschule Trier-Mitte bei einem Fahnenappell auf dem Schulhof gemeinsam mit ihren Mitschülern ein neues Lied mit dem Text lernen musste: „Schmeißt sie raus, die ganze Judenbande. Schmeißt sie raus aus unserem Vaterlande!“
Anschließend zogen sie mit dem Lehrer Richtung Synagoge, hier an diese Stelle. „Dort erinnere ich mich an Qualm“, so Magda Schuler. „Irgendetwas hatte gebrannt, vielleicht Bücher. Kirchenbänke standen auf der Straße. Wir mussten uns aufstellen und das neue Lied singen.“ Beim Gang durch die Nagel- und Neustraße erinnert sie sich an zerschlagene Fensterscheiben, zerrissene Gardinen und an einen Bäckerladen, dessen Schaufensterscheibe total zerstört worden war. Zwischen den Glasscherben standen noch die gefüllten Bonbon-Gläser. Und der Lehrer forderte die Schüler auf, sich zu bedienen. Magda Schuler tat es nicht. „So etwas durfte man doch nicht. Das war Stehlen, eine Sünde.“
Mit dem Gedenken an die Opfer der Pogromnacht ist es allein natürlich nicht getan. Eine glaubwürdige Erinnerungskultur setzt das Engagement jedes Einzelnen für die Werte unserer Demokratie und Wachsamkeit gegenüber ihren Feinden und Gegnern voraus. Mein Dank gilt allen in dieser Stadt, die sich aktiv gegen jede Form von Intoleranz und Diskriminierung, Rassismus, Ausländerfeindlichkeit, Hass und Gewalt zur Wehr setzen. In vorbildlicher Weise ist in den zurückliegenden Jahren von vielen Institutionen, Gruppen und Einzelpersonen Erinnerungs- und Aufklärungsarbeit über die dunklen Kapitel der nationalsozialistischen Geschichte Deutschlands und die Vorkommnisse hier in Trier geleistet worden. Die Schulen und Kirchen, die Arbeitsgemeinschaft Frieden, die VHS oder der Verein „Für ein buntes Trier, gemeinsam gegen Rechts“ stellen sich mit anderen immer wieder dieser Aufgabe.
Ich erinnere an die Präsentation des Gedenkbuches der Trierer Juden durch die Stadtbibliothek, an die verschiedenen Aktivitäten anlässlich des 70. Jahrestages der Pogromnacht 2008, die Lichtprojektion am Haus Fetzenreich mit einer eindrucksvollen Präsentation der Lebensläufe von 492 jüdischen NS-Opfern, die aus Trier deportiert wurden, an eine Ausstellung in der Konstantinbasilika hierüber oder an die vielen Stadtführungen zu den Stolpersteinen vor den Häusern, in denen einstmals jüdische Mitbewohner lebten, bevor sie von den Nazis vertrieben, verschleppt und in den meisten Fällen umgebracht wurden.
Machen wir uns nichts vor: rechtes Gedankengut, Gewaltbereitschaft und Alltagsrassismus stellen nach wie vor eine gesellschaftliche Herausforderung dar, wie die jüngsten Vorfälle des Zusammenschlusses von Hooligans und Rechtsextremen in erschreckender Weise gezeigt haben. Hier ist der Rechtsstaat in seiner Wehrhaftigkeit zum Schutz und zur Einhaltung der demokratischen Grundrechte und -pflichten gefordert. Aber es gibt auch neue rechtspopulistische Auffangbecken, die sich mit dem Deckmäntelchen des „Bürgerlichen“ umgeben. Wenn AfD-Politiker auf Landes- oder Kommunalebene durch rechtsradikale Äußerungen und partielle Kooperationen mit der NPD in den Medien bundesweit auf sich aufmerksam machen und selbst die Parteispitze laut Presseberichten davon spricht, dass es „relativ viele rechtsextreme Einzelfälle“ neben „Unvernünftigen, Unanständigen und Intoleranten“ in den eigenen Reihen gibt (erstes Zitat: Bernd Lucke, FAZ v. 13.10.2014; zweites Zitat: Olaf Henkel, FAZ v. 27.1.2014), so ist jeder Einzelfall nicht hinnehmbar und keine Alternative für die demokratische Kultur in unserem Land.
Unerträglich sind auch die Inszenierungen der NPD in unserer Stadt, auch wenn die Partei nicht mehr in unserem Stadtrat vertreten ist. Wir bleiben aufgerufen, uns mit friedlichen politischen Mitteln gegen die bewussten und allzu offensichtlichen Provokationen der Rechtsextremisten zu wehren, wobei ich mir eine noch breitere Unterstützung in dem allgemeinen Sinne, wie es unser Bundespräsident vor einem Monat formuliert hat, wünschen würde: „Wir dürfen niemals vergessen“, so Gauck am 9. Oktober in Leipzig, „dass unsere Demokratie nicht nur bedroht ist von Extremisten, Fanatikern und Ideologen, sondern dass sie ausgehöhlt werden und ausdörren kann, wenn die Bürger sie nicht mit Leben erfüllen.“
Meine Damen und Herren, liebe Freunde, als Oberbürgermeister dieser Stadt spreche ich heute an dieser Stelle zum Gedenken an die Pogromnacht vom 9. November 1938 zum letzten Mal zu Ihnen. Mir war und bleibt diese Erinnerung von herausragender Bedeutung. Wir sind und bleiben das Gedenken den seinerzeit in ihrem unermesslichen Leid allein gelassenen Opfern des Pogroms schuldig. Ich möchte aber auch der jüdischen Kultusgemeinde dafür danken, dass es wieder ein von Verständnis und Vertrauen geprägtes Zusammenleben von Juden und Nichtjuden in unserer Stadt gibt. Dies ist, nach allem, was geschehen ist, ein großes unschätzbares Geschenk.
So bekräftigen wir an dieser Stelle unsere Verantwortung, alles dafür zu tun, damit sich das unvorstellbar Geschehene nie mehr wiederholt. Wir verneigen uns in tiefer Trauer, Demut und Scham vor unseren früheren jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern, die den Verbrechen der nationalsozialistischen Eroberungs- und Vernichtungspolitik zum Opfer fielen.